saatgut

marlene schulz

Saatgut


Gisbert lebte seit dem Tod seiner Mutter in dieser Zwei-Zimmer-Wohnung. An allen Wänden hatte er Regale angebracht und gesammelt, was ihm lieb war: Zeitschriften, Prospekte - allerdings nur die kleineren -, Werbezettel, Zeitungen. Unter den Zeitungen nur die, die keine großen Buchstaben druckten.
Große Buchstaben waren ihm unbehaglich. Erinnerten ihn daran, wie er früher immer die Aufträge seiner Mutter vor seinem Bett vorfand.
ZIMMER AUFRÄUMEN. BROT HOLEN. MÜLL AUSLEEREN.
Vor allem den Müll zu entsorgen hatte ihn gequält. Doch an eine Begebenheit erinnerte er sich gerne, dachte er an diese ungeliebte Aufgabe. Obenauf, in der grauen Tonne, hatte einmal ein verschlossenes Päckchen Grassamen gelegen. Das Päckchen so groß wie ein Schulheft, doch deutlich dicker. Wie ein mit Dinkelkörnern gefülltes Kissen. Das hatte er mit nach oben genommen und unter seiner Matratze verstaut. Das war ein sicherer Ort.
Seit dem Tod seiner Mutter, das war jetzt vierzehn Jahre her, hatte er einen üppigen Vorrat an Grassamen angehäuft. Vorrat war nicht ganz das richtige Wort, denn Gisbert hatte weder Garten noch Balkonkästen, um Grassamen vorrätig haben zu müssen. Er kaufte sie einfach tütenweise und stapelte sie in seinen Regalen.
Manchmal wiegte er eine gefüllte Tüte in beiden Händen und versuchte, durch die in der Plastikhülle vorgestanzten Löcher ihren trockenen Duft zu erschnüffeln. Er stellte sich dann vor, wie die Samen auf der Erde aufgingen und im Zeitraffer zu sprießen begannen. So, wie einst sein Bart gewachsen war, den seine Mutter ihn gezwungen hatte, zu entfernen.
Mindestens einmal wöchentlich hatte ein Zettel mit großen Buchstaben vor seinem Bett gelegen.
RASIEREN. HEUTE. Drei Ausrufezeichen.
Jetzt rasierte er sich nicht mehr. Ließ wachsen, was wachsen wollte, was wachsen sollte.
Einmal hatte er davon geträumt, dass Grassamen in seinem Bart aufgegangen waren und seine Mutter mit der Gartenschere an ihm herum geschnitten hatte. Schweißgebadet war er nach dem Erwachen. Erleichtert hatte er nach seinen Haaren unter dem Kinn gefasst und gleich danach die Grassamentüten in seinen Regalen kontrolliert.
Er war beruhigt, dass alle noch verschlossen waren. Verschlossen und ordentlich aufeinander gelegt. Eine Tüte auf der anderen. Ein Stapel neben dem nächsten.

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