Oh du
Zwanzig nach vier. Noch läuten die Glocken nicht.
Schnell in die Schuhe. Mantel, Schal, Handschuhe, Kleingeld für den Opferkorb, Schlüssel, Taschentücher, ein Hustenbonbon. Haustüre abschließen.
Der Atem nebelt vor meinem Gesicht. Kalt.
Sieben Minuten Fußweg. Ein paar Menschen in Sicht, gleiche Richtung. Ich lege einen Schritt zu, hole auf, überhole, will vor ihnen da sein. Wieder zwei. Ich laufe noch schneller, renne fast. Die auch. Ein Wettlauf um den besten Platz. Sie wechseln die Zielgerade. Noch mehr Menschen. Jetzt alle unverkennbar in die gleiche Richtung. Ich gehe durch den Torbogen, die drei Sandsteinstufen hinauf, die schwere Eichentür hindurch.
Im Innern flackern Kerzen. Menschen husten, reden. Kinderstimmen. Die besten Plätze sind belegt. Ich erkenne es auf einen Blick. Erste Reihe reserviert für das Krippenspiel. Zweite Reihe auch. Dritte Reihe besetzt. Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Geschwister. Nur noch ein freier Platz mit einem Pfosten vor der Nase. Schlechter Platz. Gestrichen.
Linke Seite vom Durchgang, gleiches Szenario. Ich drehe um, der Schal rutscht von meiner Schulter. Ich schwinge ihn mit einer schnellen Bewegung nach hinten, nehme die Treppe nach oben.
Vier Sitzreihen auf der Empore. Mein Blick kreist um die Brüstung. Alte Männer und Frauen, Eltern mit Kindern, Kleinkinder. Sie sitzen und warten schon. Meine Augen wandern schneller. Ich suche nach der Lücke, der Lücke für mich in der ersten Reihe.
Da, ein freier Platz, neben einem Mann. Erste Reihe auf der Empore, direkt an der Brüstung. Den nehme ich. Wunderbar. Die Eile hat sich gelohnt. Schnellen Schrittes erobere ich den Platz. Meinen Platz. Harte Bank, Kissen vergessen. Kurzes wortloses Lächeln für meinen Banknachbarn zur Begrüßung.
Jetzt. Ich sitze.
Der Menschenstrom fließt weiter. Mütter in festlicher Kleidung, ein Kind an jeder Hand, kommen die Treppe herauf. Spitzenkragen, dicke Strumpfhosen, gebügelt das Kleid, gekämmtes Haar. Sie schieben sich vorbei an den besetzten Reihen, nehmen noch eine Stufe zur nächsten Ebene. Jetzt geht es nur noch darum, überhaupt sitzen zu können.
Die Plätze füllen sich. Manche versuchen es noch, schieben sich an anderen vorbei, auch an mir, vor mir.
Mir gegenüber auf der anderen Seite der Empore steht ein Mann mit gefalteten Händen. Sein Blick starrt nach unten. Manchmal sehe ich ihn im Wald joggen. Ein guter Läufer, ein schneller. Jetzt nimmt er sich Zeit, viel Zeit. Steht da, den Kopf gesenkt, spricht stumm mit sich selbst. Vielleicht über seinen Job, seine Familie, seinen heranwachsenden Sohn, seine Eltern, seine Ehe, den letzten Sex mit seiner Frau oder mit einer anderen. Vielleicht nimmt er sich vor, etwas zu ändern, oder er sinniert darüber, wo er sich den nächsten Laufschuh kaufen wird. Jetzt hebt er seinen Kopf. Er blinzelt, so, als sei er gerade aus einem Traum erwacht. Die Frau neben ihm hat sich das Haar geflochten. Wie unten die Maria, die auf ihren Einsatz wartet.
Die Orgel pfeift ihr Vorspiel, dann ein Lied. Singende reihen sich ein in die Melodie. Schenkt uns seinen Sohn … liegt dort elend, nackt und bloß … schließt auf die Tür zum schönen Paradeis.
Ich singe nicht, der Mann neben mir auch nicht.
Die Pfarrerin begrüßt die Gemeinde, spricht einen Psalm, Maria und Josef beginnen ihr Spiel. Erste Szene, zweite Szene, dritte, dann ein Lied. Die Pfarrerin sagt an. O du fröhliche, o du selige.
Mit der gnadenbringenden Weihnachtszeit schwebt der Hauch eines strengen Mundgeruchs von meiner Rechten zu mir herüber. Mein Banknachbar!
Die Welt geht mit langem O verlo-ho-ren.
Ich rieche den Atem, faulig, stark. Stelle mir das mit seinen schmalen befeuchteten Lippen geformte O vor. Oje, wie das riecht. Stinkt.
Christ ist geboren, freue dich! Langes gehauchtes, gestoßenes Eu. Mein Nachbar: Jetzt ein engagierter Sänger.
Christ ist erschienen, uns zu versühnen. Das geht gerade noch. Dem Geruch nach zu urteilen, offenbar fast mit geschlossenem Mund. Jetzt wieder ein O. O du, und ein Ö. Fröhliche.
Ich versuche, dem ausgepressten Atem neben mir standzuhalten, arbeite daran, dem Stinkwall mit meinem eigenen kraftvoll ausgestoßenen O Widerstand zu leisten, ich wage kaum, Luft zu holen, fürchte, der Atem meines Nachbarn könnte in mich dringen, durch mein eigenes wohlgeformtes O, durch meine Lippen, hinein in meinen Mund, hinein in meinen Körper. Ich will sein O durch meines wegstoßen, wegpusten hinunter zu denen, die da unten sitzen und ihre Münder für ihr eigenes O aufsperren.
Jetzt jauchzen himmlische Heere dir Ehre. Ich atme schnell ein, bevor das nächste lange Eu von Freu-heu-he ausgestoßen wird. O Christenheit! Heit! Heit! Heit!
Und dann ist es vorbei. Endlich!
Die Orgel verstummt, mit ihr der Gesang. Die Münder schließen sich. Ich atme tief durch die Nase aus. Bete, hoffe, dass das nächste Lied meinen Nachbarn stumm sein lässt.
Maria und Josef, jetzt im Stall. Eine Plastikpuppe mit geschürztem Mund liegt nackt auf Stroh. Drei Hirten stehen vor dem Mikrophon. Sie sind mit Schaffellen umhüllt.
Von der Empore aus reißt ein Mädchen kleine Stücke von einem Papiertaschentuch, lässt sie auf die Hirten rieseln. Es weihnachtet. Der Text der Sprecher wird mit einem unterdrückten Lachen gesprochen.
Wieder muss die Gemeinde singen. Freu dich, Erd´ und Sternenzelt. Bitte nicht, bettle ich.
Mein Gebet wird erhört. Der Mann neben mir schweigt. Ich bin dankbar, sehr dankbar.
Weiter im Krippenspiel. Die Pfarrerin sitzt in der ersten Reihe. Sie souffliert, zuckt zusammen, als ein Liedblatt von oben herunter, von der Empore, segelt und ihr linkes Ohr streift. Erschrocken wehrt sie es mit einer schnellen Handbewegung ab. Dann das Ende der letzten Szene.
Maria und Josef haben alles gesagt, was gesagt werden musste. Erleichterte Gesichter der Krippenspielkinder.
Jetzt Applaus. Allen voran die Pfarrerin. Anhaltender Beifall. Der Mann neben mir klatscht engagiert, mit geschlossenem Mund. Ich lächle zufrieden.
So lange, bis ihm ein umfängliches „Bravo“ über die Lippen kommt.