morning has broken

marlene schulz

morning has broken


Nie wieder sah ich ihn. Er war elf, genau wie ich. Damals. Kam einfach nicht mehr zur Schule. Sein Platz blieb für ein paar Tage leer, dann setzte Frau Hohenadel jemand anderen darauf.
Ferdi hatte blaue Augen, hell wie Gletschereisbonbons. Zwei Bänke vor und eine Reihe neben mir saß er. Wenn er sich meldete, sein Arm kerzengerade nach oben schoss und er ihn mit der anderen Hand abstützte, schaute er sich manchmal nach mir um.
Wir hatten uns ein einziges Mal verabredet. Es war der Sommer bevor er nicht mehr kam. Nachmittags um drei Uhr, an einem Freitag. Ich hatte mein gestreiftes Kleid angezogen, das einen Reißverschluss bis zum Bauchnabel hatte. Der Rock war in Rot gehalten, die Streifen im Oberteil in gleicher Farbe, dazu Rosa. Ein bisschen Weiß. Der Reißverschluss hatte einen münzgroßen Ring. Ich steckte gerne den Finger hinein und zog den Verschluss rauf und runter. Ich hatte ein wenig Angst, dass Ferdi daran ziehen könnte. Heimlich schlüpfte ich in die schwarzen Lackschuhe, die im Schuhschrank standen und die ich nur sonntags anziehen durfte zum Kindergottesdienst. Meine rote Handtasche mit dem goldfarbenen Drehschloss nahm ich mit. Unser Treffpunkt war die Bank auf dem Spielplatz. Niemand spielte im Sand als ich dort saß und auf Ferdi wartete. Niemand schaukelte oder schubste für sich selbst das Karussell an.
Abwechselnd stellte ich die Handtasche auf meine Oberschenkel und auf die Bank. Malte mit meinen Lackschuhen Furchen in den Sand. Ein paar Mal öffnete ich den Verschluss meiner Tasche und sah das gebügelte Schnäuztuch mit aufgedrucktem Schneewittchen. Zwei Lutschbonbons lagen auf dem weißen Plastiktaschenboden. Ich wollte Ferdi eines davon abgeben. Er war über der Zeit. Die Kirchturmuhr schlug. Vor einer Viertelstunde waren wir verabredet. Das Warten wurde lang. Ich entschied: Noch fünf Mal Tasche aufmachen, dann.
Das erste Mal. Jetzt Taschentuch auseinander und wieder zusammen falten, Tasche zumachen, einen großen Kreis mit dem rechten Fuß in den Sand malen, einen kleinen mit dem linken. Wieder verwischen. Tasche öffnen, Bonbons in die Hand nehmen, wieder fallen lassen. Tasche schließen. Die Schuhe aneinander klopfen. Den Reißverschluss ein bisschen nach unten ziehen, wieder zurück, Tasche öffnen, Taschentuch unter die Bonbons, Tasche schließen, ein Rechteck in den Sand, Tasche öffnen, Tasche schließen, Kopf nach rechts, links, Ohren gespitzt, Tasche öffnen, ein Bonbon auswickeln, in den Mund schieben und Schluss. Tasche schließen. Beim Weggehen: Bonbonpapier in den Mülleimer.
Zuhause hing ich mein Kleid über den umhäkelten Bügel in den Schrank, stellte die Schuhe zurück. In der Schule sprachen wir nicht mehr über diesen Nachmittag.
Ferdi radelte mit den anderen Jungen um die Häuser, zeigte ihnen sein aufklappbares Taschenmesser, schnitzte Stöcke und am Bach unten baute er Staumauern aus Steinen und Schlamm und Ästen mit ihnen. Er war einer der Ersten, der schwimmen konnte. Die Mutter kam aus dem Österreichischen, irgendwo am See wohnten die Großeltern. Die Berge vor der Nase.
Ferdi hatte eine kleine Schrift. Mit grünem Füller und blauer Tinte füllte er angestrengt Linien. Einmal, in der Pause, zeigte ich ihm meine Schönschrifthausaufgabe. Ich nahm ein Lächeln wahr und ein zustimmendes, leichtes Kopfnicken. Meine Sitznachbarin, die in der Zeit zwischen den Unterrichtsstunden an mir klettete, hatte sie nicht wahrgenommen, diese kleine Bewegung, die Ferdi mir geschenkt hatte, aber Marina war nicht immer aufmerksam.
Als ich im Klassenraum mein Schreibheft für Frau Hohenadel öffnete, war meine Schönschrift mit blauen Punkten gespickt, die ineinander geflossen waren. Den beginnenden Nieselregen, draußen auf dem Schulhof, hatte ich nicht bemerkt. Ich klappte das Heft wieder zu, ließ es unter der Bank verschwinden. Die Aufgabe war freiwillig gewesen und wer sich besonders dabei angestrengt hatte, bekam ein Plus von Frau Hohenadel. Ein dickes Plus. Drei davon ergaben ein Bild. Ein Engel mit einem Spruch.
Sie hat uns nie erzählt, weshalb Ferdi nicht mehr kam. Das Haus, in dem er wohnte, sah genauso aus wie vorher. Die gleichen Fensterläden und diese Gardinen, die mir besonders gefielen. An einem der beiden unteren Fenster. Ein brauner Stoff mit handtellergroßen orangenen Blüten, die lange, dünne, rechteckige Stiele hatten. Auf der gesamten Gardine waren sie verteilt, dazwischen kleine und große, mittelgroße und winzige Punkte in gleichem, kräftigem Orange und verstreut in wiederholter Regelmäßigkeit. Auch das Moped seines Vaters stand im Hof. Seine Mutter sah ich selten. Meistens ging sie rasch beim Einkaufen und redete nicht viel mit den anderen Frauen. Nachdem Ferdi nicht mehr zur Schule kam, schien sie noch rascher zu gehen, noch weniger zu reden. Ich sah sie noch seltener.
Weißt du was mit Ferdi ist?, fragte ich Marina. Sie zuckte mit den Schultern.
Ferdi kommt nicht mehr zur Schule, sagte ich zuhause und meine Mutter schaute mich an, als hätte ich gerade einen Regenwurm in den Mund gesteckt. Vater ließ nicht von seiner Zeitung ab.
Ferdis Selbstbildnis hing bis zum Ende des Schuljahres im Klassenraum, neben all den anderen Zeichnungen, die jeder von sich mit Wasserfarben zu malen hatte. Das Gletschereisbonbonblau hatte er gut getroffen. Wir sollten dazu schreiben, womit wir gerne Zeit verbrachten. Aber erst, als Ferdi nicht mehr da war. Unter seinem Bild blieb der Text aus.
Er angelte gerne. Mit seinem Vater. Das wusste ich. Und mit seiner Schleuder, die er aus einer Astgabel und einem alten Hosenbundgummi gebastelt hatte, schoss er manchmal, wenn sich Frau Hohenadel zur Tafel drehte, zusammengeknülltes Papier von seiner Sitzbank aus in die letzte Reihe. Er besaß auch ein Röhrchen, wie die meisten Jungen aus der Klasse. Sie kauten Papierfetzen zu kleinen Kugeln, verschleimten sie mit ihrer Spucke und stießen ihren Atem in das Röhrchen. Zielten im Sommer auf die nackten Beine der Mädchen, direkt über den Kniestrümpfen. Ob Ferdi das gerne tat, kann ich nicht sagen. Mit dem Moped, das gefiel ihm. Hielt die Arme um den Bauch seines Vaters. Sie machten manchmal Ausflüge, in die Stadt. Für zwei Kugeln Eis vom Italiener. In einer Muschelwaffel. Ferdi hatte davon in der Schule erzählt. Ich mochte auch diese Muschelwaffeln. Am liebsten mit Schokolade und Zitrone.
Ferdi hatte eine Katze. Sie war ihnen zugelaufen. Meine Eltern hätten das niemals erlaubt. Wenn ich an ihn dachte über den Schulaufgaben, sah ich ihn, die Katze streicheln. Das weiche Fell. Hörte sie schnurren und schaute ihr zu, wie sie die Augen halb schloss, wie sie da lag, die Füße von sich gestreckt. Die Katze war bald gestorben. Hatte versucht, durch ein gekipptes Fenster zu kommen und war mit dem Hals stecken geblieben. Als ich davon zuhause erzählte, hatte meine Mutter auch diesen Regenwurmverschlucktblick. Auch nichts gesagt darauf. Kann passieren, hatte mein Vater kommentiert und war vom Essenstisch aufgestanden, hinüber zur Chaiselongue gegangen, sich für den Mittagsschlaf hinzulegen.
Die anderen Jungen bauten ohne Ferdi ihre Staumauern, fuhren mit den Bonanzarädern um die Wette, schnürten einen Fuchsschwanz an den hohen Lenker und später, als wir alle in andere Schulen verstreut waren, die meisten davon in der Stadt, ratterten sie mit den Mofas rund um den Spielplatz.
Ich besaß auch ein Mofa. Mein Konfirmationsgeld, dem Himmel sei Dank, hatte gerade ausgereicht dafür. Zu meinen Freundinnen fuhr ich damit, die ich in der neuen Schule kennengelernt hatte. Wir strickten Pullover mit Zöpfen und norwegischen Mustern und pressten Blüten, die wir uns gegenseitig in ein Heft klebten, in dem wir unsere Gedanken festhielten, Fotos von uns einpappten, Gedichte und Sätze notierten, die wir in Büchern gelesen hatten, die unsere Eltern nicht kannten. Wir tauschten unsere langen Wickelröcke und die engen Samthalsbänder. Auf meinem war ein Schmetterling auf Kehlkopfhöhe. An den Wochenenden übernachteten wir gegenseitig und kochten lange Nudeln aus einer Verpackung, die noch dazu eine Sauce enthielt. Wir hörten zusammen Musik von den Beatles und Donovan. Und vor allem Cat Stevens, der jetzt Yusuf ist. Gemeinsam mit ihm sangen wir morning has broken … blackbird has spoken … sunlit from heaven …, übersetzten für unsere Hefte, und wir hatten diesen schmerzlichen Druck im Brustbein, wenn wir seine butterzarten Locken zwischen unseren Fingern zu spüren glaubten und in seine schokoladenbraunen Augen auf dem Poster schauten, das jede von uns in ihrem Zimmer hängen hatte. Ferdi war nie wieder aufgetaucht.
Das Moped seines Vaters war im Hof gestanden. Später kam ein orangefarbener BMW hinzu. Die Mutter immer noch eilig beim Einkaufen.
Ich hatte mich gefragt, ob er mit seinem Fahrrad abgehauen war. Eine Antwort fand ich nicht. Auch Frau Hohenadel gab keine.
Als ich mit der Schule fertig war, zog ich weg. Ein Klassentreffen aus der Grundschule gab es nicht. Wenn ich immer seltener an Ferdi dachte, dachte ich an seine Gletschereisbonbonaugen.
Erst als ich mit meiner Mutter einen Rollator für sie aussuchte, fragte ich sie.
Ferdi, Ferdi? Sagt mir nichts.
Ferdinand. Mit dem war ich doch mal verabredet. Auf dem Spielplatz. Der kam nicht. Und die Lackschuhe waren hinterher zerkratzt.
Wie alt warst du denn da?
Zehn. Elf.
Sie schüttelte den Kopf.
Die wohnten in der Brunnengasse. Im Hof stand immer das Moped seines Vaters, sagte ich. Und später dieses orangefarbene Auto.
Ach! Die! Die hat nichts geredet. War irgendwie komisch. Die ist gestorben. Schon lange. Der Mann auch.
Und Ferdi?
Ferdinand. Das war doch der mit der Flasche.
Was für eine Flasche?
Vom Sessellift runter, direkt auf den Bub. Mehr weiß ich auch nicht. Da fragt man ja nicht.
Den Regenwurmverschlucktblick habe ich von meiner Mutter.
Tot?, fragte ich.
Nein, nicht tot.

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