mechthild

marlene schulz

Mechthild


Du hast es genau richtig formuliert in deinem letzten Brief. Wir sind tatsächlich einfach in dieses Haus eingewandert. Einer nach dem anderen wie Polonaise. Erst Erika und Gerlinde, dann Peter mit Doris, dazwischen ich und die Schlussleuchte hat Mechthild abgegeben.
Mechthild ist immer die Letzte und sie raucht unentwegt. Ich glaube, sie rauchte bei unserer Einwanderung aus langer Weile. Mit Peter konnte sie nichts anfangen, dem stand der Sinn nur nach seiner Doris, die er die ganze Zeit so fest an sich drückte, dass ich alleine vom Hingucken Schnappatmung bekam. Mit mir war auch nicht viel los, weil ich mit dem neuen Fotoapparat beschäftigt war, alles abknipsen musste und mit diesen Einstellungen kämpfte. Du glaubst gar nicht, auf was da alles zu achten ist.
Wie du dir denken kannst, waren Gerlinde und Erika die ganze Zeit am Quatschen. Sie hatten diesen tischhohen Drehaschenbecher zwischen sich gestellt und sich nach einer Weile aufs Schnäpse-Trinken verständigt.
Mechthild kam mir sehr einsam vor, wie sie da saß neben der eingeklemmten Doris auf dem Sofa. Ich bin auch erst nicht hin zu ihr, du weißt ja, wie sie ist. Immer wieder fängt sie von ihrem alten, kranken Vater an und was sie alles für ihn tut und schon getan hat und ihr Bruder, der Heiner, würde gar nichts machen, immer nur sie. An ihr bleibt alles hängen und keiner hängt an ihr, sagt sie. Heiner sagt etwas anderes.
Ich frage mich, weshalb Mechthild das alles macht für ihren Vater, wo er sie doch früher ziemlich hart rangenommen hat. Mehr als einmal ist sie von zuhause abgehauen. Sie hat es wegen dem Alten nicht mehr ausgehalten. Geschlagen hat er sie, wenn sie aus der Schule mit einer schlechten Note nach Hause kam. Wenn sie es dann noch wagte, ihren Minirock anzuziehen oder die halb durchsichtige Bluse oder Lidschatten auflegte, war es ganz aus. Da ist er ausgetickt.
Ehrlich gesagt, traue ich Mechthild nicht.
Oder besser gesagt, ich traue ihr alles zu. Ihr Vater hat sie doch ernsthaft gebeten, etwas dafür zu tun, dass er bald sterben kann. Nein hat sie gesagt, den Gefallen tue ich dir nicht.
Sie will ihn leiden sehen. Das ist ihre Rache. Auch, dass wir alle in das Haus eingewandert sind, das ist ja sein Haus, er im Nebenzimmer im Bett und wir die Bude auf den Kopf gestellt, als wäre es unsere. Die anderen hatten überhaupt nicht gecheckt, dass Mechthilds Alter im Haus war. Aber wo hätte er sonst sein sollen? Gerufen hat er nach ihr. Ich habe es gehört und sie hat es auch gehört, da bin ich mir sicher, aber was hat sie gemacht? Nichts!
Ja, du liest richtig. Nichts.
Weißt du, was wirklich der Hammer ist? Wusstest du, dass Mechthild eine Zwillingsschwester hat? Nein, falsch. Hatte. Ein Foto von ihr steckt im Rahmen von dieser düsteren Schwarzwaldlandschaft, die bei ihrem Vater im Wohnzimmer über dem Sofa an der Wand hängt. Das Bild ist unten in eine Ecke eingeklemmt. Sie hat lange braune Haare und diese wachen Augen. Ich hab‘s mir angesehen. Diesen Blick vergisst du nicht.
Wer ist das, habe ich Mechthild gefragt.
Meine Schwester, meinte sie und zündete sich die nächste Zigarette an. Zwillinge hat sie gesagt, total beiläufig.
Wie lange kenne ich Mechthild jetzt schon? Drei Jahre oder vier vielleicht. Noch nie hat sie irgendetwas von ihrer Schwester erwähnt. Nicht einmal. Und dann noch Zwillingsschwester. Das glaubst du nicht! Aber es kommt noch verrückter.
Die Schwester ist mit vierzehn weg von zuhause. Einfach fort und nie wieder zurückgekommen. Keinen Brief, keinen Anruf an niemanden. Und das, obwohl sie des Alten Liebling war. Du hättest Mechthild sehen sollen, wie sie das gesagt hat.
Die hat alles gekriegt, meinte sie. Er hat alles für sie getan und dann ist sie einfach abgehauen. Der Alte wäre beinahe gestorben. Das hat Mechthild gesagt, und dass der Alte nicht von ihrer Schwester lassen konnte, sie ständig angetascht hat. Angetascht hat sie gesagt, mehr nicht. Dann hat er wieder gerufen aus dem Nebenzimmer und Mechthild hat nichts gemacht. Nur geraucht. Wenn die eine Zigarette aus war, hat sie die nächste angezündet.
Als die Schnäpse alle waren, sind wir wieder ausgewandert aus dem Haus, so wie wir eingewandert waren. Nur Mechthild ist geblieben.
Ich muss noch mal nach dem Alten sehen, hat sie gesagt. Du hättest das selbst sehen müssen. Dir wäre es gegangen wie mir.
Jetzt muss ich Schluss machen. Vermisse dich.
K.

 

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