flatterflatter

marlene schulz

Flatterflatter


Bus. Sitze ziemlich vorne, nahe beim Fahrer, auf einem Vierer. Blauer Stoffüberzug mit roten Karos. Jemand hat sie mit schwarzer Farbe besprüht.
Meine Stiefel bilden einen dunklen Fleck auf dem Fußboden. Novemberregen.
Hinter mir eine junge Frau. Ohrstöpsel. Sie kaut Kaugummi. Schmatzt. Sehr sogar. Ich hasse Schmatzgeräusche.
Kann nicht weghören. Egal, was ich tue: Auf den Fahrer starren, vorne durch die riesige Scheibe, die Häuser, die Straße, auf andere im Bus. Immer das Schmatzen. Sie schmatzt laut. Mit offenem Mund. Ich höre ihren Speichel zischen. Drehe mich um. Schaue sie an. Sie schmatzt weiter. Guckt nicht mal zurück.
Neben mir steht ein Mann. Hält sich an der Stange fest. Den Arm nach oben gestreckt. Schweißgeruch. Super Tag. Alles da, was ich nicht gebrauchen kann.
Der Bus hält. Weisenauer Brücke. Der Stinker steigt aus. Glück. Ich atme laut aus. Hinter mir Geschmatze. Ich schließe die Augen, massiere mit Daumen und Zeigefinger meinen Nasenrücken. Stelle mir vor, ich wäre taub.
Höre das Schmatzen. Öffne die Augen. Versuche es mit Autos zählen. Rote. Weiße. Silberfarbene. Sinnloses Beschäftigen um etwas noch Sinnloseres zu vergessen. Sobald ich mich auf das Vergessen konzentriere, graviert es mein Hirn.
Vorne steigt jemand ein.
Merke, wie mir die Hitze den Hals hoch schießt, sich über meine Wangen schiebt bis zur Schädeldecke. Wende mich dem Fenster zu. Krame mit tief gesenktem Kopf in meiner Tasche. Portemonnaie. Schlüsselbund. Taschentücher. Zettel. Zwei Kinokarten. Letzte Woche war ich mit meinem Lebensgefährten im Kino. Parkscheine. Ein Kugelschreiber. Kajalstift. Handy. Taschenspiegel. Er kommt. Ich nehme eine Kinokarte. Lege die gestreckte Hand auf die Augenbrauen, schaue angestrengt nach dem Filmtitel. Und wenn wir alle zusammen zie steht auf der Karte. Er kommt direkt auf mich zu. Kommt auf gleiche Höhe. Der Film lief im Programmkino. Ich mochte ihn. Trotz greisem Publikum.
Er geht vorbei.
Ich rieche ihn. Sein Duft ist unverändert. Das gleiche Parfum. Offenbar sieht er mich nicht.
Vielleicht macht er es wie ich. Stellt sich an die nächste Tür. Im Taschenspiegel sehe ich, wie er mit dem Rücken zu mir steht. Braunes Haar. Locken. Noch immer schulterlang.
Die Locken, die ich um meinen Zeigefinger wickelte.
Er schaut aus dem Fenster. Sein Profil: die gekrümmte Nase. Ein Bruch nach einem Fahrradsturz. Er trägt eine dünne Jacke. Damals, die braune Lederjacke. An meiner Garderobe hatte er sie aufgehängt, so flüchtig, dass sie zu Boden fiel, liegen blieb.
Sein Handy klingelt. Ich höre ihn. Spüre seine Stimme in meinem Brustkorb auf drei Meter Entfernung. Etwas Geschäftliches. Er ist ganz förmlich. Siezt die Person am Telefon. Geschäftsmann.
Seine Locken sind weich wie Samt. Ich war siebenundzwanzig, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Ein Betriebsfest. Er hatte einen Auftritt. Mit einer Gruppe. Bewegungskünstler. Enganliegende Turnanzüge. Eine Kollegin hatte ihn engagiert. Er half beim Aufräumen. Trank das letzte Bier aus dem Zapfhahn. Mit mir. Begleitete mich ein Stück. Ich schob mein Fahrrad. Hab‘ den gleichen Weg, sagte er. Wusste gar nicht, wo ich wohnte. Er kam mit rauf in meine Zweizimmerwohnung unterm Dach. Badezimmer mit Wanne unter der Schräge. Mintgrün gekachelt. Seine Lederjacke warf er über den Garderobenhaken. Kümmerte sich nicht, dass sie zu Boden fiel. Er ging, bevor ich erwachte.
Die Tage danach schwebte ich durch die Straßen. Wartete auf seinen Anruf. Auf einen Brief, eine Karte, ein Klingeln an der Tür. Träumte von einer abgeschnittenen Locke in einem Umschlag unter meiner Fußmatte. Stattdessen rief ich an, legte auf, wenn nicht er am Telefon war. Fuhr an seiner Haustür vorbei, kreiste um den Block um wieder und wieder und wieder vorbeizufahren. Mendelssohnstraße 91. Dritte Klingel rechts.
Ich schickte ihm Rosen. Achtunddreißig Rosen zum Geburtstag mit einem Versandgruß. Adresse: Den Namen der Firma habe ich vergessen. Das muss ja ein toller Mann sein, sagte die Blumenverkäuferin, als ich den Text diktierte. Er hat sie mit nach Hause genommen. Wollte sie übers Wochenende nicht verderben lassen. Seine Freundin hatte keinen Gefallen an den Blumen. Inzwischen ist sie seine Frau. Er musste sie wegwerfen. Die schönen Rosen.
Ich war einundvierzig. Da rief er an. Mein Name steht im Telefonbuch. Wollte mich treffen. Auf einen Kaffee. Die Familie war ohne ihn in den Urlaub gefahren. Verwandte besuchen. Es war das Wochenende, an dem mein Lebensgefährte zu einer Fortbildung unterwegs war. Irgendwo im Bayerischen.
Wir aßen zusammen, sprachen über Belanglosigkeiten. Sinnloses Zeug, das nur Sinn machte zu erzählen, wenn man ein Ziel verfolgte. Er ging kurz nach Mitternacht. Im Hausflur fiel ihm eine kleine weiße Softverpackung aus der Jackentasche. Kleiner als ein eingeschweißtes Brillenputztuch. Quadratisch. Das Verfallsdatum war am Rand aufgedruckt. Zwei Tage später hatte ich blaue Flecken an der Schulter. Die Holzdielen in meinem Wohnzimmer sind sehr hart.
Ich war fünfzig, als er mich einlud, mit einer E-Mail, ihn zu besuchen. Er arbeitete jetzt unter der Woche in einer anderen Stadt. Zuhause die Frau. Die Jahrzehntefrau. Und die drei Kinder. Zwei Mädchen, ein Junge. Schon groß. Besonders der Junge sieht ihm ähnlich. Die gleichen Haare.
Wir könnten schwimmen gehen, schlug er vor. Schwimmen, in einer anderen Stadt. Die Worte flogen hin und her. Das erste Mal, dass ich chattete. Ein paar Tage später wieder. Das Schweben von damals. Es lag in der Luft. Hielt meinen Atem an.
Ich stellte mir vor, wie wir schwimmen würden. In einem See. Niemand uns kannte. Zufällig würden wir uns im Wasser berühren, sein Bein an meinem Schenkel, mein Arm an seiner Schulter. Stellte mir vor, wie ich auf dem Rücken schwamm, die Arme ausbreitete, die Augen schloss, er seine Hände unter meinen Rücken legte. Ich würde über Nacht bleiben. Bleiben müssen. Die Fahrt war zu lang, um spät am Abend zurückzufahren. Einen Tag Urlaub würde ich nehmen, im Auto Musik hören, ganz laut. Ich nahm Lieder auf, die mir gefielen, in deren Takt ich mich tanzen, meine Arme herumwirbeln, in die Luft strecken sah. Vielleicht würden wir zusammen tanzen. Am See?
Er musste eine kleine Wohnung haben. Spärlich eingerichtet. Viel Weiß. Eine Dienstwohnung für Geschäftsmänner mit wichtigem Auftrag. Vielleicht war sie doch etwas größer. Wegen der Wichtigkeit.
Ich würde am Fenster stehen, ein Glas Wasser trinken, auf die Lichter in den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser schauen. Zusehen, wie sich die Menschen hinter den Scheiben bewegten, wie sie kochten, sich miteinander unterhielten, schwiegen, fern sahen. An seinem Geruch würde ich zuerst wissen, dass er hinter mir stand. Ohne mich zu berühren. Mein Brustkorb bewegte sich von meinen Atemzügen, die angestrengter waren als sonst. Auch meine Schultern. Seine Lippen berührten meinen Hals. Seine Zunge an meinem Ohr. Gänsehaut. Er legte die Arme um mich, drehte mich um, nahm mir das Glas aus der Hand, stellte es auf den Boden, schob es mit nacktem Fuß zur Seite. Umkreiste mit seinen Fingern meinen Bauchnabel, schob mein T-Shirt über meinen Kopf. Seine Haarspitzen waren noch feucht vom See.
Im Mai fanden wir, dass Juni eine gute Zeit war. Ich schaute in meinem Bürokalender nach einem möglichen Urlaubstag. Mein Sohn war im Juni auf Klassenfahrt. Meinen Lebensgefährten sehe ich nur am Wochenende. Das finden wir beide gut so. Freuen uns von Woche zu Woche aufeinander. Er ist ein Glücksgriff. Genau richtig für mich.
Ein Donnerstagabend im Juni. Gleich nach der Arbeit. Ich könnte den freien Freitag bummeln gehen. In der anderen Stadt. Mir ein Kleid kaufen. Aus dünnem Stoff, der bis zum Boden reicht. Hinter mir her weht, wenn ich durch die Straßen gehe. Sich zu einem Teller ausbreitet, wenn ich die Treppe hinunter renne.
Im Juni hörten wir nichts voneinander. Im August fanden wir, dass sich der September anbot. Warm genug für den See. Alles andere würde sich ergeben. Das sagten wir nicht. Mein Sohn hatte eine neue Freundin. Manchmal übernachtete er bei ihr. Auch unter der Woche. Ich suchte nach einem passenden Tag. Füllte einen Urlaubsschein aus. Ließ ihn von meiner Chefin unterschreiben. Ob ich etwas Schönes vorhätte. Kann ich noch nicht sagen. Mal sehen.
Den Urlaubstag verbrachte ich in der Sauna. In meiner Stadt. Ich gehe gerne in die Sauna. Auch alleine.
Wieder hält der Bus. Er steigt aus.
Kramt in seiner Jackentasche, schnäuzt sich die Nase als ich an ihm vorbeifahre. Er sieht mich. Ich ziehe die Augenbrauen nach oben, mache große Augen, öffne beide Hände auf Schulterhöhe. Ziehe die Schultern nach oben. Winke kurz. Ein kurzes Flatterflatter mit meinen Fingern. Er lächelt. Große Locken hat er. Immer noch Braun.
Im sich entfernenden Bus wird er kleiner und kleiner. Der Bus biegt um die Ecke. Die Häuser stehen nicht mehr so dicht. Viel Grün. Gartenzwerge. Jägerzaun. Kurz geschnittener Rasen.
Alles hat seine Ordnung.

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