hinter der koreanischen grenze

marlene schulz

Hinter der koreanischen Grenze


92 und 71 macht 163 Lebensjahre
Mutter und Sohn
endlich, endlich ein Wiedersehen, ein einziges
ein endliches Widersehen, elf Stunden, nicht mehr
nicht mehr und nicht wieder

Ich bin sicher, dass ich ihn nicht erkennen werde, damals war er sechs Jahre alt, jetzt ist er einundsiebzig. Er wird nicht wissen, wer ich bin. Sie müssen ihn mir zeigen. Ich werde ihn fragen, wie er über all die Jahre gelebt hat, ob eine neue Mutter ihn großgezogen oder sein Vater das alleine gemacht hat. Ich habe Kleidung für ihn gekauft und Schuhe. Sechs Paar Schuhe. Zahnbürsten und Zahnpasta habe ich als Geschenk verpackt. Und zwanzig Löffel, rostfreie Löffel. Das ist mein letztes Mal.

Sie ist zweiundneunzig. Auf unserer Flucht war sie siebenundzwanzig. Ob sie einen Mann gefunden hat nachdem wir auseinandergerissen wurden? Ob ich Geschwister habe? Ob sie Vater je wieder getroffen hat? Ob er noch lebt?

Er hat sich fein gemacht mit diesem grauen Anzug, dazu ein weißes Hemd. Jemand hat es gebügelt. Am Revers klemmt ein Schild mit seinem Namen. Die Haare sind ordentlich geschnitten. Er lebt. Er ist es. Ich halte ihn fest, lasse ihn nicht wieder los. Seine Haut ist von der Sonne verbrannt. Er drückt mich an sich. Seine Wange ist warm. Mein Sohn.

Sie ist klein und schmal. Ich verneige mich vor ihr. Muss mich auf einen Stuhl setzen, damit sie mich umarmen kann. Ihre Haare sind grau. Die Lippen hat sie angemalt, für mich. Ihre Hände zittern. Sie schlingt ihre Arme um mich und weint. Ich halte sie, vorsichtig, will ihr nicht wehtun. Sie hat noch alle Zähne. Das ist gut. Hat mir Geschenke mitgebracht, so viele Geschenke.

Zum Abschied zerrt man sie auseinander.
Hinter der Grenze trägt sie immer noch seinen Hut.

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