er und ich

marlene schulz

Er und ich


In der letzten Zeit denke ich oft an Andreas. Oft nicht, öfter. Ab und zu trifft es noch besser. Eine Jugendliebe ist nicht ganz das richtige Wort. Zu einer Jugendliebe gehört die Zärtlichkeit. Und die Berührung. Und das Schweben. Ich hatte zu jener Zeit, als ich mit Andreas Kontakt hatte, einen festen Freund. Meinen ersten festen Freund. Andreas hatte mit diesem Freund nichts zu tun. Es gab keine Verbindung zwischen den beiden. Wo ich Andreas kennen lernte, kann ich nicht sagen. Es ist mir entfallen. Er war drei, vier Jahre älter, was viel war, gemessen an dem Alter, das ich hatte.
Ich erinnere mich an einen Abend, ich vermute, es war ein früher Abend, denn lange in die Nacht hinein durfte ich meiner Eltern wegen nicht von zuhause fortbleiben. Meine Eltern gingen bereits um acht Uhr am Abend ins Bett, standen früh am Morgen auf. Andreas wohnte im Nachbarort, und ich fuhr mit dem Mofa hin. Eine blaue Zündapp, gekauft von meinem Konfirmationsgeld. Gekauft in dem Fahrradgeschäft des Ortes, in dem ich aufwuchs und die ersten neunzehn Jahre meines Lebens verbrachte.
Andreas wohnte in einem Haus. Ich wusste nicht, ob er alleine dort wohnte oder bei seinen Eltern, bei seiner Großmutter vielleicht. Ich sah sie nie. Ich war nur wenige Male bei ihm. Vielleicht sogar nur zwei oder drei Mal. Wir lagen auf dem Teppichboden in einem, seinem Zimmer. Langgestreckt nebeneinander. An eine Berührung kann ich mich nicht erinnern. Aber die Nähe war da. Wir redeten die ganze Zeit, und ich spüre noch unser Verstehen, unser Interesse für die Gedanken, die wir hatten und aussprachen und neu entwickelten und kundtaten und wie sie die des anderen ergänzten und weiterführten, und dass der Abend endlos so hätte weitergehen können, hätte ich nicht um die Uhrzeit zuhause sein müssen, die meine Eltern mir vorgegeben hatten. Ich weiß nicht mehr, was genau wir miteinander sprachen. Das ist lange her. Ich weiß, dass er meine Gedanken erwachsen fand, so erstaunlich für mein Alter. Er war angetan von mir, und ich von seinem Angetansein.
Andreas hatte helles Haar, dunkelblond. Es war lang und alle Jungen, die ich kannte, hatten nicht dieses lange Haar. Es war mehr als schulterlang. Mein Haar war auch dunkelblond und ging bis zu meinen Ellenbogen. Ich trug gerne selbst gestrickte Pullover oder alte, karierte Hemden meines Vaters, eine Zeit lang auch seine dünnen, blauen Arbeitsjacken mit aufgesetzten Taschen auf Hüfthöhe und einer auf der Brust. Mein Vater war Gas- und Wasserinstallateurmeister mit Urkunde, die in einem großen, dunkelbraunen Rahmen hinter dem Schreibtisch seines Büros hing, das außer ihm kaum jemand betrat. Andreas und mein Vater hatten sich nie getroffen.
Heute, genau vor einer Stunde, ist mir Andreas‘ Nachname eingefallen. Ich schaute im weltweiten Netz nach ihm, und ich suchte nicht einmal zwei Minuten in Bildern, die mit seinem Namen verbunden sind. Ich erkannte ihn sofort. Die schmalen Lippen. Die kleinen Zähne in seinem breiten Mund. Die kleinen Augen und die Schlupflider. Sein Haar ist jetzt kurz und immer noch hell. Aus dem dunklen Blond ist ein helles Grau geworden. Auf seiner Webseite steht: Erschaffe grüne Wunder.
Meinem Vater gelang es, dass die Briefe, die Andreas mir in seiner kleinen Schrift schrieb, ausblieben. Erst lag eine Zeit, die nicht lang war, jeden Tag ein Brief in unserem Briefkasten, in dem sonst nur Geschäftsbriefe für meinen Vater ankamen. Selten eine Postkarte von einer verwandten Person, die sich im Schwarzwald, in Südtirol oder zum Wandern in Österreich befand. Andreas schickte seine Briefe mit der Post, schrieb mir mehrere Seiten und setzte seine vollständige Adresse auf die Rückseite, die dem Postboten und auch meinen Eltern nicht entgangen sein durften. Eine Adresse genügte, um Erkundigungen einzuholen, einmal dort vorbeizufahren und zu schauen, wer heraus kommt und wer hineingeht. Stille Beobachtungen mit aufgestützten Armen auf dem Lenker des Autos, den übereinandergelegten Händen vor dem Mund.
Es waren Briefe über Gedanken, die Andreas sich machte und mit mir teilte. Auch Gedanken, die er über mich hatte und die Nähe zu mir, die er empfand. Es machte mir Freude, ihm zu antworten, mit dem, was mir durch den Kopf ging. Bis keine Briefe mehr kamen. Ich hatte keine Telefonnummer von ihm und hätte auch nicht gewusst, was ich ihm am Telefon, das im Büro meines Vaters stand, in den schweren, schwarzen Hörer mit der stoffumwickelten Schnur hätte sagen können. Wir konnten auf dem Boden liegend und an die Decke guckend, bloß nicht in die Augen des anderen, gut miteinander sprechen, auch in den Briefen waren wir uns nah. Ich nahm zur Kenntnis, dass keine Briefe mehr von ihm kamen. Er mir nicht mehr schrieb. Ich akzeptierte sein Schweigen. Akzeptierte, dass er nicht mehr schreiben wollte. Ich schrieb auch nicht mehr.
Es muss Sommer gewesen sein. In unserer Küche stand ein Kohleofen, in dem an kalten Herbsttagen ein Feuer brannte, bevor die Heizung im Keller angeschaltet wurde, es ohne sie nun wirklich nicht mehr ging. Manchmal öffnete jemand die Tür des Ofens und warf etwas hinein. Das konnte ein unbrauchbar gewordenes Papier sein. Davon gab es nicht viele. Die meisten dienten meiner Mutter für einen Einkaufszettel. Eine Metzgertüte vielleicht, mit braun gewordenem Blutfleck. Auch die Schale einer Orange konnte darin landen. Einmal, da öffnete ich die Tür, vielleicht warf ich ein Kräuterbonbonpapier hinein. Es war vermutlich früh im Herbst. Die Zeit, in der ich mit Andreas Briefe geschrieben hatte, lag Wochen zurück. Kurz bevor ich die Ofentür schließen wollte, sah ich hinten links Andreas‘ Schrift mit meinem Namen auf einem halb verbrannten Briefumschlag. Es mussten mehrere Briefe gewesen sein. Die Asche des angezündeten Papiers war noch nicht zerfallen. Ich starrte die vernichteten Briefe an. Das konnte nur mein Vater gewesen sein. Verheimlicht hat er sie vor mir. Ein angezündetes Streichholz drangehalten, die Ofentür geschlossen und Andreas‘ Worte dem Feuer überlassen. Meine Treffen und meine Gedanken hatte ich doch nur mit ihm teilen wollen. Nicht mit Vater. Und ich war sicher, er hatte gelesen, was für mich bestimmt war, nur für mich. Niemals hätte ich ihn danach gefragt, was in Andreas‘ Briefen stand. Niemals danach fragen können. Er hatte sich hineingedrängt und geschwiegen und die Zeit verstreichen und mich rätseln lassen auf der Suche nach einer Erklärung. Da spürte ich, dass es zu spät war für Andreas.

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