aus dem taxifenster

marlene schulz

Aus dem Taxifenster heraus sehe ich Mama


War das eben wirklich Mama?
Entschuldigen Sie bitte, sage ich zu dem Taxifahrer. Können Sie da vorne bitte drehen und noch mal hier vorbeifahren?
Wie, nochmal vorbeifahren?
Na, genau da, wo wir eben vor zwei Sekunden waren. Bitte fahren Sie da nochmal entlang, an der Frau vorbei, die in dem Mülleimer gewühlt hat.
Vorbeifahren ist okay, aber ich nehme die Frau nicht mit, wenn es das ist, was Sie wollen.
Nee, will ich nicht, sage ich und frage mich, wieso dieser Kerl Mama nicht mitnehmen will. Hat er Angst, sie könnte etwas von sich lassen, wenn sie einsteigen würde? Dass etwas kaputt gehen könnte, schmutzig werden würde, nachher riecht, sehr stark riecht, stinkt, gar nicht mehr weg geht, nicht mehr rausgeht aus den Sitzpolstern oder dem Anschnallgurt? Ich möchte nicht wissen, wer hier schon alles gesessen und etwas von sich gelassen hat. Das war sicher nicht immer einwandfrei, und so wie der Kerl sich jetzt verhält, hat es offensichtlich schon des Öfteren Anlass gegeben, Einwände zu erheben, aber das geht mich nichts an, es ist nicht mein Taxi, also schon, für diesen Moment ist es natürlich mein Taxi, aber eben nicht für immer. Er will also Mama nicht mitnehmen.
Es ist nicht so, dass ich das will, aber so, wie er es sagt, klingt es, als hätte ich ihn geradezu um Erlaubnis zu fragen, ob meine eigene Mutter in diesem, meinem Taxi für das ich nachher anständig und voll umfänglich bezahlen werde, mitfahren dürfte, und vor dessen Fahrt ich zumindest zu Beginn der Reise daran dachte, ein Trinkgeld zu geben, so wie ich es immer tue. Genau genommen denke ich darüber gar nicht nach, weil es mir so selbstverständlich ist, und jetzt mir selbst umso unverständlicher, dass ich so etwas wie ein Trinkgeld für so einen Taxifahrer bereit gewesen war auszugeben, der vor mir sitzt und mich im Rückspiegel besieht, als hätte er noch nie einen elegant gekleideten Mann in einem feinen Anzug, vielleicht sogar etwas zu feinen Anzug für den bevorstehenden Anlass, von dem dieser Mensch natürlich nichts wissen kann und ich auch einen Teufel tun werde, ihm davon etwas zu berichten, als hätte ebendieser Taxifahrer noch nie einen solch gut angezogenen Mann wie mich gesehen.
Bitte drehen Sie hier, sage ich noch einmal.
Es gibt Leute, die erst auf Wiederholung reagieren, dabei will ich von ihm nichts mehr als die Verlängerung einer Fahrt, für die ich, wie gesagt, bezahlen werde, aber mir gerade überdeutlich darüber im Klaren bin, dass ich ihm kein Trinkgeld geben werde.
Kennen Sie die Frau?, fragt der Kerl jetzt und schaut dabei in seinen Rückspiegel, als könnte dieser ihm noch mehr Offenbarung bescheren.
Ich tue einfach so, als hätte ich seine Frage nicht gehört und schaue raus. Schließlich geht es ihn überhaupt nichts an, wen ich kenne und wen nicht. Was glaubt er denn, mich hier einfach so über Mama ausfragen zu können. Mama würde das sicher auch nicht wollen, sie würde nicht einmal wollen, dass ich sie erkenne und dann auch noch Geld dafür ausgebe, sie ein zweites Mal in dieser Öffentlichkeit bei der Ausübung ihres selbst gewählten Zuverdienstes zu beobachten.
Endlich dreht er, denke ich. Mama fischt jetzt etwas aus dem Mülleimer heraus, der an der Bushaltestelle angebracht ist, und steckt es in einen großen, blauen Müllsack, der bereits zu drei Viertel gefüllt ist. So kenne ich Mama, wenn schon, dann richtig. Sie greift noch einmal in den Eimer.
Bitte etwas langsamer, sage ich zum Fahrer.
Ich kann hier nicht stehen bleiben, sagt er.
Stehen bleiben, wiederhole ich in Gedanken und schaue Mama an. Mama würde das nicht wollen. Genauso wenig, wie sie will, dass irgendjemand sich in ihre Angelegenheiten einmischt, auch wenn jetzt die Gelegenheit gerade günstig wäre. Ich könnte sie ins Taxi locken, wobei Mama sich niemals locken lassen würde, ich müsste sie schon kidnappen. Dem Fahrer würde ich in Folge einer Entführung das Doppelte zahlen, um ihm seinen guten Willen zu entlocken, mit Geld dürfte das wohl keine großen Schwierigkeiten bereiten. Er könnte dann denken, dass er Mama aus reiner Barmherzigkeit die Tür geöffnet hätte. Ich könnte Mama mitnehmen auf diese komische Party.
Auf die habe ich ohnehin keine Lust. Das wäre ein Gesprächsstoff, der noch weit über die reine Partyzeit und bis lange über die nächste Party hinaus reichen würde. Man hätte sich endlich etwas zu erzählen, etwas Unglaubliches, etwas, an dem man seinen Glauben verlieren konnte, Gott sogar deswegen angerufen werden würde. Ich hörte die Kollegen schon hinter meinem Rücken …
Die Mutter von dem Ahrenberg, habt ihr die gesehen …
Also wenn die nicht …
Gott, oh, Gott. Du glaubst es nicht! Himmel!
Bis hoch in die Chefetage würden sich die Spekulationen ausstrecken und sich dort vermehren.
Drehen Sie da vorne nochmal, sage ich. Dann können wir weiter.
Da sind Sie sicher?, fragt der Taxifahrer jetzt.
Auf manche Fragen sollte man wirklich nicht antworten. Die sind so überflüssig. Sind Sie sicher? Mit was soll ich mir denn nicht sicher sein? Dass Mama hier Flaschen sammelt? Sie tut es. Sicher! Warum soll sie das nicht tun? Von mir will sie kein Geld. Das weiß ich sicher und sicher ist auch, dass ich das nicht begreifen kann, nicht begreifen werde, und noch sicherer ist, dass sie irgendetwas tun muss, damit, wenn sie schon nicht mein Geld will, ihr Geld mehr wird.
Das Taxi dreht. Mama steht jetzt an der Haltestelle. Ich habe sie lange nicht gesehen. Sie sieht nicht viel anders aus als ich sie in Erinnerung habe.
Ich denke gerade ein zweites Mal daran, sie ins Taxi zu befördern, und halte jetzt mein Handy möglichst unauffällig in ihre Richtung. Als ich gerade auf record drücken will, kommt der Bus.

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